“Ein seltsamer Virus namens Tango“, Von Thomas Kröter. Berliner Zeitung 25 July, 2014.
TANZEN IN BERLIN Ein seltsamer Virus namens Tango
Von Thomas Kröter
Es ist kurz vor ein Uhr. An der Spree tanzen die Paare mit ihren Schatten um die Wette. Die O2 Arena auf dem anderen Ufer würzt das diffuse Licht mit einem leichten Rotschimmer. Thomas Klahn, ganz in Schwarz, steht an seinem DJ-Pult links neben den beiden Flügeltüren. Von hier aus hat er auch den Raum drinnen im Blick. In diesem Sommer können sich die Tangotänzer aussuchen, ob sie die Stimmung auf dem klebrigen Asphalt draußen genießen mögen, oder lieber ihre Gelenke schonen und drinnen das Parkett der Kreuzberger Tanzschule „bebop“ nutzen.
Frauenüberschuss
Die „Tangobar“ hier zählt zu den ältesten Institutionen der Berliner Szene. Thomas Klahn legt seit fast 20 Jahren auf, hat die Moden kommen und gehen sehen: „Erst gab’s fast nur Astor Piazzolla, später kam der Elektrotango“, erinnert er sich. „Heute ist die „Goldene Epoche“ der 30er und 40er Jahre wieder große Mode.“ Damit’s nicht eintönig wird, spielt er zwischendurch auch Nicht-Tangomusik. Nur eins hat sich nicht geändert. Jeden Dienstag ist es rappelvoll bei ihm.
Sabine, Ärztin von Beruf, zählt zu den Stammgästen – auch wenn sie es immer wieder verflucht, dem seltsamen Virus namens Tango verfallen zu sein. Dann sitzt sie in einem der braunen Ledersessel gleich an der Tanzfläche und grübelt, warum keiner sie auffordert, obwohl die meisten Männer hier auch nicht jünger sind als sie. Wie in allen Paartänzen herrscht Frauenüberschuss. Doch dann kommt einer ihrer Lieblingstänzer. Und sie haben Glück: Der DJ spielt Osvaldo Pugliese. Mit seiner suggestiven Dramatik zählt das Orchester des argentinischen Bandleaders zum intensivsten, was der Tango zu bieten hat. Nach drei Stücken ist Sabine erschöpft, aber glücklich.
Die Boxervariante
Sei und ihr Partner lehnen die Köpfe aneinander beim Tanzen, ihre Körper sind nun ein umgekehrtes „V“, die Füße weit von sich gestreckt für Schritte und Figuren. Andere Paare kleben schier aneinander, wieder andere begegnen einander in der Halbdistanz wie Boxer. Tango ist Improvisation, Körpernahe, nonverbale Kommunikation. Dasselbe Stück wird auf hunderterlei Weisen getanzt. Einfaches Gehen oder waghalsige Kombinationen. Das doppelte oder das halbe Tempo der Musik. Es geht alles.
Boris und Vio, die auffälligsten Erscheinungen dieses Abends, wählen die Boxervariante. Der Berliner Student trägt Hosen, jedes Bein so weit wie ein bodenlanger Damenrock. Die schmale junge Frau sieht aus, als habe sie sich von einer Gothic-Party verirrt. Statt der tangoüblichen Stilettos trägt sie zum knappen schwarzen Outfit Schuhe mit sechs Zentimeter hohen Plateausohlen, auf deren abgerundeten Spitzen sie sich bewegt. Beide machen ausladende Bewegungen, manchmal wie in Zeitlupe, verschlingen die Beine ineinander, werfen sie hüfthoch – stets bedacht, Nachbarpaare nicht zu gefährden.
Auf den Kopf gestellt
Auch der Laie sieht: Da „führt“ nicht einfach ein Mann seine Partnerin nach seinem Gusto in irgendwelche erlernten Figuren. Die beiden sind in einen tänzerischen Dialog vertieft. Auf seinen Impuls folgt ihre Antwort und umgekehrt. „Dieses getanzte Gespräch ist es, was der Tango für mich ausmacht“, sagt Vio. Der Tanz habe ihr Leben „völlig auf den Kopf gestellt“, bekennt die Amerikanerin, die heute von Sydney aus als Tanzprofi die Welt bereist. „Ich hab alles dafür aufgegeben – und ein neues Leben gewonnen.“
Da tanzt noch ein Paar, das auffällt: Gerlinde und Paul sind bekannt in der Szene. In ihrem früheren Leben waren die beiden erfolgreiche Turniersportler in den Standard- und Lateintänzen. Doch dann machten die Knie nicht mehr mit. Heute zelebrieren die 74-Jährige und ihr 83-jähriger Mann die Eleganz aus jahrzehntelanger Parketterfahrung. Die Frage, was sie so fasziniert, beantwortet Gerlinde wie die junge Gothic-Tänzerin: „Der immer wieder neue Dialog zwischen Mann und Frau“.